Westfälischer Anzeiger (Hamm) 25.11.2006

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Internet-Ausgabe vom 25.11.2006

 

Der Westentaschen-Organist

In der Apostelkirche erklingt trotz knapper Kasse in 2007 weiterhin Orgelspiel -

Möglich macht es die Weltneuheit "KMKS 12"

Die Technik wird bisher nur von 20 Kirchen in Ostdeutschland genutzt -

Von ihrem Erfinder war sie nicht als Kantor-Ersatz gedacht

 

 

Präsentieren den Wunderling "KMKS12" (von links): Jack Lear, Annett Zöffel, Friedrich Kott und Pfarrer Hans Joachim Kettner.

 

 

Foto: Wiemer   

Von Sabine Fischer

HAMM-WESTEN · "Ich fange dann mit dem Orgelvorspiel an." Jörg Bock nimmt mit schnellen Schritten die Treppe zur Orgel-Empore. Es ist kalt in der Apostelkirche - um zu heizen fehlt der Gemeinde das Geld. Das Kirchenschiff ist nur einfach bemannt: Pfarrer Hans Joachim Kettner hat sich in einer der Bänke niedergelassen. Das Kinn leicht auf die Handfläche gestützt, erwartet er das Aufbranden der Akkorde. Glücklich sieht er in diesem Moment nicht aus. Aber mit dem, was er hört, scheint er zufrieden. Das Vorspiel braust auf, der Geistliche begleitet es mit einem langsamen Kopfnicken, lauscht versunken.

Seine Stimme erhebt sich unvermittelt "Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit". Die Harmonie von Instrument und Stimme könnte Gänsehaut erzeugen, hätte sie sich nicht schon temperaturbedingt eingestellt.

Pfarrer Kettner räuspert sich: "Ich wollte nur mal demonstrieren, wie es mit Gesang klingt." Fast gleichzeitig erscheint der Kopf von Jörg Borg auf der Empore. "Soll ich aufhören?", will er wissen, während die Orgel weiter tönt. Ohne, dass jemand die Manuale bedient? Nicht ganz, den neuen Organisten der Apostelkirche steckt Jörg Bock locker in die Tasche. Der "Neue" heißt "KMKS 12", misst nur wenige Zentimeter und ist quadratisch, praktisch, gut.

"Kirchen-Musik-Kompakt-System 12" lautet der volle Name des Kästchens im Gameboy-Format, in dem 535 sakrale Lieder und Choräle im Dateiformat "MP3" gespeichert sind. Ein Knopfdruck genügt und der Winzling mit einer Aufnahmekapazität von 20 Gigbyte schließt sich mit Verstärker und Boxen kurz. In der Apostelkirche hat man sich dafür entschieden, die Lautsprecher direkt hinter dem Korpus der verwaisten Kirchenorgel zu deponieren. "Wir hatten erst überlegt, die Musik von vorne her kommen zu lassen. Aber von der Empore her wirkt es tatsächlich so, als ob unsere Kirchenorgel gespielt würde", erläutert Pfarrer Kettner.

Nur schwer hat sich der Geistliche damit abfinden können, dass die Stelle von Kantor Andreas Kronfeld aus Kostengründen gestrichen werden musste (WA berichtete). Ein Gottesdienst, in dem nicht alle Register gezogen werden - an diesen Gedanken muss er sich immer noch gewöhnen.

Während Kettner sinnend auf die technischen Aparaturen hinabblickt, spielt Annett Zöffel im fernen Jessen (Sachsen-Anhalt) auf ihrer E-Orgel weitere Stücke ein. Seit Kindertagen fühlt sie sich auf der Klaviertastatur heimisch, mit der Orgelmusik beschäftigt sie sich erst seit fünf Jahren intensiv. Jack Lear, Betreiber des Digital-Studios-Linda bezeichnet sie als "echtes Naturtalent". Ganz gleich, welche Noten ihr vorgelegt werden: In Sekundenschnelle spiele sie das Gewünschte vom Blatt. Für Lear, den Erfinder des KMKS12, eine effiziente Fusion: Mit Zöffels Spiel speist er die kleinen Wiedergabegeräte, die, gekoppelt an entsprechende Lautsprecher, auch große Kirchenschiffe unter Choral-Donner erzittern lassen.

Organisten ersetzen wollte Lear nie: "Das war nie meine Absicht. Vielmehr gibt es in den östlichen Bundesländern wie Brandenburg oder Sachsen-Anhalt Regionen, in denen es keine Kirchenmusiker gibt." Selbst Gemeinden, die sich einen Kantor leisten könnten, suchten oft vergeblich. Zwei Jahre Planung und viele Tests hat es Lear gekostet, das Problem zu lösen. "Ursprünglich ist das KMKS12 für kleinere Kirchen gedacht gewesen", berichtet Lear, der in Deutschlands Osten inzwischen 20 Kirchen mit seiner Technik ausgestattet hat. Die Hammer Apostelkirche ist seine West-Premiere und zugleich auch der erste Fall, in dem seine Dienste aus Geldnot angefordert wurden.

Bei Lears Erfindung handelt es sich um eine Weltneuheit - Anfragen aus aller Welt treffen mittlerweile auf seinem PC ein. Immer mehr Christen interessieren sich für den digitalen Kantor. "Auch aus Amerika und Kanada - nur aus China nicht", erzählt der Tüftler, und lacht. Noch weiß er nicht genau, ob er expandieren soll. Denn Bestandteil seines Firmenkonzeptes ist es, die Kunden persönlich zu besuchen, um die örtlichen Gegebenheiten kennen zu lernen und die Technik darauf abstimmen zu können.

Im Falle der Apostelkirche hat er sich beispielsweise für größere Boxen entschieden und von einer Funksteuerung abgeraten. Pfarrer Kettner setzt lieber auf Steckkabel: Auch ohne die Tücken der Technik könne im Laufe eines Gottesdienstes schon genug Unvorhersehbares geschehen. Er sei schon froh gewesen, dass das von Organistin Zöffel angeschlagene Tempo in etwa seinen Erwartungen entspreche. "Mancher Organist aus Fleisch und Blut neigt zum Vorpreschen, andere intonieren lieber langsam und getragen - das heißt, dass man sich immer wieder neu darauf einstellen muss", erklärt er augenzwinkernd.

Denkt Kettner an den ersten offiziellen Gemeinschaftsauftritt mit dem Westentaschen-Organisten am Neujahrstag, ist ihm doch ein bisschen mulmig zumute. Presbyter Jörg Bock, bisher alleiniger Meister des KMKS12, bildet derzeit eine kleine Brigade Knopfdrücker heran. Einige Probenarbeit wird also noch erforderlich sein. Sollte dabei auffallen, dass einzelne Lieder fehlen, hat sich Annett Zöffel bereit erklärt, erneut mit den Tasten der E-Orgel zu klappern. Pfarrer Kettner überlegt bereits, Zöffel zum 40-jährigen Kirchenbestehen im kommenden Jahr einzuladen. "Schließlich ist sie ja unsere neue Organistin. . .".

 

Die finanzielle Misere und ihre Folgen

Zur St.-Victor-Gemeinde gehört die Apostelkirche, deren Bezirk sich bis in die Isenbecker-Hof-Siedlung erstreckt, seit 2003. Die St.-Victor-Gemeinde muss in diesem Jahr 44 000 Euro und im kommenden 29 000 Euro einsparen. Im Winter wird die Gemeinde ihre Messen vorwiegend im Gemeindehaus abhalten, um die Heizkosten in der Kirche gering zu halten. Das neue Abspielgerät kann auch dort eingesetzt werden. Den Preis der Anlage will Jack Lear nicht nennen, aber er sei fünf Mal günstiger als der Einsatz eines Organisten in Westdeutschland. Um bei Großereignissen einen "echten" Organisten verpflichten zu können, will die Gemeinde Spenden sammeln.

 

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